Zeitzeugengespräche mit Abba Naor

(Von Ayline Zempel, SW13)

Am 28. März hörten wir die bewegenden Worte und Eindrücke eines Mannes, der das Unvorstellbare aus der Vergangenheit wieder in die Realität holte. Eine Stimme der Vernunft, appellierend an uns, die Zukunft, Menschlichkeit und Rechte des Einzelnen zu wahren und ineinander die Gemeinsamkeiten zu sehen, anstatt nach den Unterschieden zu suchen. „In uns allen fließt rotes Blut, wir alle sind aus denselben Bestandteilen aufgebaut“, so der 94-jährige.  In was für eine Familie oder Religion wir hineingeboren werden, sei bloßer Zufall, das könne und dürfe nicht bestimmen, wie wir einander gegenübertreten. Auch die Religion sei kein Maßstab, an dem man weder den Wert noch Schuld oder Unschuld eines Menschen feststellen könne.


Artikel 2, Abs.2 des Grundgesetzbuches hält fest: „Alle Menschen haben ein Recht auf Leben“. Es ist eines der wichtigsten Grund- und Menschenrechte, die wir besitzen. Herr Naor, einer der letzten Zeitzeugen, der den Holocaust überlebt und sich das Erinnern an und Aufklären über die Vergangenheit zur Aufgabe gemacht[J3]  hat, legt auf dieses Recht ganz besonders großen Wert. Immer wieder erklingt dieser Satz, sein Blick dabei eindringlich auf uns gerichtet, den über 200 Hörer der Fachoberschule Germering, die am 21.03.2022, ihm – Abba Naor, 1928 in Kaunas, in Litauen als Mensch jüdischen Glaubens geboren und 1941 durch die Nazis in ein Ghetto gesperrt und den folgenden vier Jahren bis Kriegsende durch die Nazis erst entrechtet, dann verfolgt, gedemütigt und gequält wurde, mit dem Ziel, die jüdische Bevölkerung Europas auszurotten.

Und es ist nicht nur eine Erinnerung für uns, sondern auch ein überaus wichtiger Appell. Für uns heute ist unser Recht auf Leben selbstverständlich, Abba Naor und seiner Familie hatte man damals dieses Recht nicht gewährt, man hatte es ihnen gewaltsam entrissen und ihnen so ihre Menschlichkeit genommen und sie, wie Herr Naor selbst es beschreibt, zu Objekten gemacht, die man, wenn einmal unnütz geworden, wie alte Autos weitergereicht hat. Es war das erste Mal, dass eine Regierung entschieden hat, Fabriken der Tötung zu errichten und auf diese Weise ein ganzes Volk zu ermorden, die „Endlösung der Judenfrage“ innerhalb einer Maschinerie, die das Morden zu einem alltäglichen Geschäft machte.

Abba Naor erinnert uns an den Wert unserer heutigen Demokratie und er führt uns vor Augen, wozu das Böse im Menschen fähig ist, wenn Rechte Unschuldigen keinen Schutz bieten. Hannah Arendt schrieb über die Menschenrechte Folgendes: „Zuerst und vor allem findet der Raub der Menschenrechte dadurch statt, daß einem Menschen der Standort in der Welt entzogen wird, durch den allein seine Meinungen Gewicht haben und seine Handlungen Wirksamkeit.“ Der Prozess ist schleichend, er beginnt mit Ausgrenzung, auf die Herabsetzung folgt Entrechtung und wird der Mensch damit erst einmal unsichtbar gemacht, so ist der Weg zur Gewalt und Vernichtung nicht mehr weit. Daran sehen wir, es braucht keine Boshaftigkeit und kein Monster, um diesen Prozess des Hasses und der Verfolgung ins Rollen zu bringen, Vorurteile trägt jeder von uns in sich und nicht selten wollen wir die Augen vor Problemen verschließen, die uns zu groß und belastend erscheinen. Wir müssen uns also selbst vor dem ersten Schritt bewahren, eine Gruppe von Menschen, egal welcher Religion, Ethnie, welchem Geschlecht oder welcher Sexualität sie auch angehört, aus unserer Mitte auszugrenzen und uns nicht für sie einzusetzen.

Als Herr Abba Naor den Raum betritt, regt sich unmittelbar etwas in einem; dieser Mann war bereits als Kind in einem Ghetto in Kaunas, Litauen, später in Konzentrationslagern in Stutthof, Dachau sowie in den Außenlagern in Utting und Kaufering. Er hat das Grauen miterlebt, das wir uns nicht annähernd vorstellen können .Was Herr Naor berichtet, macht deutlich, wie nah das Grauen war, hier, wo wir nun frei leben. Dort vor uns stand nun kein Lehrer, der aus einem Geschichtsbuch zitierte. Die Augen dieses Mannes sahen Leichen, die man wie Abfall stapelte und sie sahen die eigene Mutter und den fünfjährigen Bruder in einer Kolonne von Menschen gehen, heute, mit dem Wissen lebend, dass sie auf dem Weg nach Auschwitz in die Gaskammern waren. Das Kinderschicksal zieht sich wie ein roter Faden durch Herrn Naors Berichte, seine Brüder hatten nicht die Möglichkeit, erwachsen zu werden, konnten nicht zur Schule gehen, ein langes und erfülltes Leben führen. Diese Worte sind ein Schlag knallharter Realität und für uns Schüler bedeutet dies, zu hinterfragen, ob die Dinge, die wir täglich anklagen und die uns unerträglich erscheinen, wie Klausuren und das viele Lernen, nicht ein unglaubliches Privileg sind. Trotz dieser abstrakten Grausamkeit fühlen wir mit, soweit unser Verständnis von Brutalität und Horror dies zulässt. Wer überlebte, das war Glück und von den vielen Tausend Kindern in seiner Heimatstadt überlebten nur 360.

„Was existierte war Mord, Totschlag, Hunger und Elend.“

Als Herr Naor beschreibt, wie der Krieg begann und Russen sowie Deutsche in die Nachbarländer einmarschierten, sagt er immer wieder, dass das ja nichts mit ihnen, den Menschen, zu tun gehabt hätte. In Litauen lebten viele Minderheiten in Frieden, trotz des starken katholischen Glaubens. Doch man hatte sich mit den Eigenheiten und Lebensweisen der anderen irgendwie arrangiert. Irgendwann hatte das Chaos, in dessen Mitte sie sich wortwörtlich befanden, dann doch etwas mit ihnen zu tun. Abba Naor schildert die Entwicklungen in seiner Heimat, wie er sie damals als Kind mit 13 Jahren erlebte. Vom plötzlichen Verlassen des eigenen Zuhauses, dem Weg in unbekannte umliegende Dörfer und wie die Mutter und die drei Kinder sich mit einem Mal von dem Vater trennen mussten und Herr Naor nicht verstand, was geschah. Er beschreibt diese anfängliche Zeit der Veränderungen kindlich, naiv als eine Art Abenteuer, erzählt wie die Kinder lernten, Kühe zu melken und Butter zu machen. Das klang nach alles anderem als nach Krieg und Völkermord.

Wir hörten eine ausführliche Darstellung einer schönen Kindheit, die mit einem Mal zu Ende geht, als Herr Naor die Angst und Trauer der Mutter miterlebt, ohne sie zu verstehen und erstmals die nahende Bedrohung zu spüren bekommt, als sich die Erwachsenen nicht mehr vor die Tür trauen. Auch die Nachbarin, die er stets Tante nannte und mit dessen Sohn er eng befreundet war, wertet ihn plötzlich als Juden ab. Abba Naor traut sich als einiger hinausvor die Tür. Ein Kind kann sich kaum vorstellen, welche Gefahren sich mit einem Mal auftun, an dem Ort, an dem er vor kurzer Zeit noch wie ein normales Kind zur Schule ging und mit den Nachbarskindern spielte. Ein augenscheinliches Abenteuer, welches sich in kürzester Zeit in bitteren Ernst umwandelt. Als die deutschen Truppen einmarschieren und zwei Ghettos errichten, wird es immer schwieriger, die Umgebung und Geschehnisse durch die an das Gute glaubenden, kindlichen Augen zu sehen. Bei einer Selektierung endet Herr Naors Kindheit, es blieben lediglich sieben von den ursprünglich 21 Familienmitgliedern übrig, die Nazis ermorden einen großen Teil seiner Familie und er selbst und andere Bewohner jüdischen Glaubens werden wie Tiere unter unwürdigen Bedingungen zusammengepfercht.

Abba Naors Schilderungen, die dann folgen, sind tief bewegend und zu grausam, um sie sich bildlich machen zu können. Der Zugang zu Geschäften und Lebensmitteln ist in den Ghettos nicht mehr möglich. Nicht in der Lage, die Skrupellosigkeit und Bereitschaft der Nazis zum Mord richtig einzuschätzen, schicken die Eltern ihre Kinder zu den Geschäften in den nahegelegenen Orten mit der festen Überzeugung, dass man unschuldigen Kindern nichts antun würde.

Herr Naor und seine Familie gaben die Hoffnung lange nicht auf, dass sein nur wenige Jahre älterer Bruder wieder zurückkehren würde. Dann zeigt er auf einer Leinwand eine Liste, darauf notiert die Anzahl der Getöteten, eine dieser Zahlen sein Bruder. 137.346, die Zahl notierte sich SS-Standartenführer Karl Jäger, eine Zahl, die wir uns nicht vorstellen können, zu abstrakt, um die Menschen dahinter sehen zu können, deren Leben durch allein diesen einen Mann beendet wurde und dessen Tode dieser fein säuberlich protokollierte. Herr Naor erzählt uns, dass dieser Mann Musiker war, jemand mit Leidenschaft für eine Kunstform, für die man Feinsinn benötigte. Warum begann er diese Verbrechen?

Für den 13-jährigen Naor und seine Familie beginnt ein langer Leidensweg, den der 94-jährige Herr Naor mit einer unglaublichen Ruhe und Sachlichkeit schildert, dass einem die Bedrohung in mancherlei Situationen für den Bruchteil einer Sekunde ganz real scheint. Er weckt in seinen Zuhörern Verzweiflung, Angst, Mitgefühl und Hoffnung. Wie unausweichlich der Tod und wie willkürlich die Gewalt damals waren, wird immer wieder deutlich. So trennt ein kleiner Fehler Abba Naor zuletzt auch noch von seinem Vater: als ein Kommandant sieht, dass Vater und Sohn sich an den Händen halten, trennt dieser die beiden Abba Naor ist nun gänzlich auf sich allein gestellt.

„Was blieb war die Gewissheit, dass man sterben würde, nur den Zeitpunkt kannte man nicht.“

Auch Abba Naor muss in der ständigen Erwartung des Todes leben. Die Wünsche, wohl eigentlich Grundbedürfnisse, werden dabei immer kleiner seine Freunde und er hatten nur noch ein einziges Ziel: bevor sie sterben sollten, wollten sie sich wenigstens noch einmal richtig satt essen.

Die Möglichkeit einer Flucht bestand immer wieder, antwortet Herr Naor auf die Frage eines Schülers, doch die Hoffnungslosigkeit, von irgendjemanden Hilfe erwarten zu können, hinderte ihn. Als das Kriegsende naht, schickt man die noch Lebenden auf Todesmärsche, mit dem Ziel aus ihnen auch noch das letzte Quäntchen Leben herauszuholen und jede Zeugenschaft auszulöschen. Die Bemühungen der Nazis die Spuren ihrer Verbrechen zu verwischen, zeigt ihr Bewusstsein für das Unrecht, das sie taten. Herr Naor lief durch die Orte, an denen wir heute leben, entkräftet, hoffnungslos, dass er die ständigen Versuche, ihn in den Tod zu treiben, überleben würde. Was ihn letzten Endes gerettet hat, waren Freundschaft, Hilfe durch Bewohner in der Nähe der Lager, die ihr Leben durch das Bereitstellen von Essenspaketen riskierten, und eine ungeheure Willenskraft, am Leben zu bleiben.

Heute fragt sich Abba Naor: „Warum die Juden?“ So wendet er sich direkt an uns und stellt die Frage in den Raum, was mit ihm nicht stimme, ob er komisch aussehen würde, was er falsch gemacht habe. Blickt man sich um, so schütteln viele ihre Köpfe und es tut sich der Drang auf, laut „Nein“ zu rufen. Nein, wir können auch keine Antworten geben, es gibt keine. Dass sich ein Opfer fragt, was es falsch gemacht habe, ist bereits paradox an sich, doch angesichts der grundlosen Morde, der Millionen von unschuldigen Menschen, ist die Frage nach dem „Warum“ menschlich, gibt es kein Warum, so bleibt die Angst vor der Willkür, der Unberechenbarkeit sowie Angst vor der Wiederholung eines derartigen Verbrechens.

Warum Deutschland heute immer noch ein derartiges Antisemitismus-Problem hat, kann er nicht verstehen. Diese moderne Form der Judenfeindlichkeit, des Hasses macht ihn betroffen. Ob wir von der Anschuldigung gehört haben, die Juden hätten Corona erschaffen, um mit den Medikamenten Geld zu verdienen, fragt er. Klar ist, dass es Menschen gibt, die sich nicht auf die Seite der Akzeptanz und des Friedens stellen wollen, Herr Naor ist der Meinung, diesen Menschen könne man nicht helfen. Was wir tun können: Im Dialog mit all jenen sein, die verstehen wollen, Emotionen auslösen, denn was betroffen macht, das bleibt hängen und zeichnet. Als FOS Germering haben wir das Versprechen gegeben, nicht zu vergessen, zu lehren und zu mahnen und diese Kultur der Vermittlung und Erinnerung weiterzugeben an all die jungen Menschen, die an dieser Schule noch lernen werden.

„Warum geht uns das heute noch was an?“, und „Warum müssen wir uns noch erinnern?“

Hass, Verschwörungen und Feindseligkeit gegenüber Menschen jüdischen Glaubens finden leider immer noch Platz in unserer Gesellschaft. Ereignisse wie der rechtsextremistische Anschlag in Hanau oder der antisemitische Anschlag in Halle, aber auch Hassbotschaften und feindliche Äußerungen in der Politik sowie ganz alltägliche antisemitische Angriffe auf der Straße, machen dies deutlich. Heute müssen wir feststellen, dass der Antisemitismus und Vorurteile in Deutschland so tief verwurzelt sind, dass sie uns in herangezogenen Vergleichen oder harmlos erscheinenden Witzen gar nicht mehr auffallen. Auf diese Weise lebt Antisemitismus inmitten unserer Gesellschaft. Das NS-Dokumentationszentrum hat es sich unter anderem auch zur Aufgabe gemacht, über die modernen Formen des Antisemitismus in unserer Gegenwart zu informieren, dem System aus Verschwörungstheorien, die sich in alle Bereiche des Lebens erstrecken. Doch auch die Bedeutung unserer Demokratie und der Menschenrechte führen diese Einrichtungen erneut vor Augen und zeigen auf, wo wir als Gesellschaft stehen würden, wenn diese unser Leben, den Frieden und die Freiheit nicht sichern würden. Wir müssen uns die Frage stellen, wie wir in der Zukunft erinnern können. Abba Naor sagt es selbst: Die Zeitzeugen werden ihre Geschichte bald nicht mehr selbst erzählen können, es liegt dann an uns, unser Wissen und die Erinnerungen, die Überlebende wie Herr Naor an uns weitergegeben haben, immer wieder zu beleben. Mit Gedenkstätten und Einrichtungen wie dem NS-Dokumentationszentrum, den KZ-Gedenkstätten sowie Orten des Widerstands wie die Erinnerung an die Weiße Rose, sind bereits Orte der Begegnung geschaffen worden, an dem wir lernen und erinnern, mahnen und sensibilisieren können.

Herr Naors Mut, seine Ausdauer und unbeschreibliche Kraft sind tief beeindruckend und führen uns als Zuhörer vor Augen, welche Fähigkeiten das menschliche Wesen besitzt und welchen Überlebenswillen und welche Schutzmechanismen es im Angesicht eines drohenden Todes aufbringen kann.

Abba Naor ist eine wahrlich inspirierende Persönlichkeit und sein Besuch eine unwahrscheinliche Bereicherung und Lehre für jeden einzelnen Schüler und jede Schülerin unserer FOS. 

Mit Herrn Naors Hilfe können wir das Vergangene und Zukünftige durch seine Augen sehen und eine wichtige Botschaft mit auf unser aller Weg nehmen: Es liegt in unserer Verantwortung, die Grund- und Menschenrechte zu wahren und jeden Tag zu leben. „Wenn man nichts weiß, zu was der Mensch fähig ist, kann sich das wiederholen“, so Herr Naor. Wir „Kinder“, wie er sich liebevoll an uns wendet, gestalten gemeinsam diese Zukunft, die vor uns liegt, wir sind die Maler eines Werkes, welches für Leben, Liebe und Menschlichkeit steht. „Das Leben ist schon etwas Tolles“ und so müssen wir achtsam sein und dafür sorgen, dass jeder Mensch dieses Leben auch nach seinen eigenen Wünschen und Vorstellungen frei leben kann, und wir müssen verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt.