Barbara Schilke über Benedict Wells „Hard Land“ (2021)
„In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.“
Mit diesem Satz beginnt der neue Roman „Hard Land“ von dem jungen Autoren Benedict Wells, und damit fasst er im Voraus den Inhalt des Buchs bereits ganz trocken und schnörkellos zusammen. Was für ein Spoiler, denkt man zunächst. Aber dann liest man eben doch weiter und wird hineingezogen in die Erzählung des jugendlichen Protagonisten, in seine Erinnerungen an den Sommer 1985.
Der fünfzehnjährige Sam wächst in der Kleinstadt Grady im amerikanischen Bundesstaat Missouri auf. Der Vater, ein schweigsamer Riese, ist auf Jobsuche und verbringt die meiste Zeit vor dem Fernseher, während die Mutter, die seit einer Krebserkrankung stark geschwächt ist, die Familie mit dem Ertrag aus ihrem kleinen Buchladen in der lokalen Mall über die Runden bringt. Sam ist schmächtig, still und unscheinbar, im Rückblick meint er: „Ich schätze, damals war ich auch noch ein ziemlicher Freak. So hatten mich zumindest ein paar Mitschüler genannt. [I]n der Cafeteria [saß ich] allein am Tisch. Selten hockte sich ein anderer Außenseiter dazu, aber nie für lange. Und manchmal kam mir der Verdacht, mein ganzes Leben war wie dieser Tisch.“
Um vor sich selbst und den Problemen zu Hause zu fliehen, überwindet er sich und nimmt einen Ferienjob in einem alten Kino an. Er erschrickt, als ihm plötzlich bewusst wird, dass dort auch ältere Mitschüler jobben. Da ist Kirstie, die draufgängerische Tochter des Kinobesitzers, der filmverrückte Cameron und sogar der legendäre Brand, genannt „Hightower“, aus dem Footballteam der Schule. Sam ist entsetzt: „Am liebsten wäre ich nach Hause gerannt.“ Ängstlich verschanzt er sich hinter seiner Schweigsamkeit, er will sich keine Blöße geben. Zugleich fühlt er sich jedoch angezogen von dem Dreiergespann, diesen drei Freunden, die zwar nur ein Jahr älter sind als er selbst, ihm aber an Erfahrung und Selbstbewusstsein gefühlte Jahrzehnte voraus sind. Besonders fasziniert ihn die Unbefangenheit und Charakterstärke der blonden Kirstie: „Ich war ein bisschen kleiner als sie – und streckte meine Hand aus. ‚Sam Turner.‘ – ‚Ich weiß.‘ Sie griff danach. ‚Deine Mom ist mein Dealer.‘ Ich starrte sie fragend an und betrachtete dabei verstohlen ihre Haare, die zu einem Bob geschnitten waren und ihr bis zum Kinn reichten. ‚Lesestoff…‘, versuchte sie es. ‚Bücher, diese viereckigen Dinger aus Papier?‘ Sie erzählte, wie sie schon als Kind ins Best Books gekommen sei […]. ‚Kirstie Andretti‘, sagte sie kaugummikauend und drückte zu. Ziemlich fest.“
Für Sam ändert sich in den folgenden Wochen alles. Zwar behandeln ihn die Älteren zunächst eher von oben herab. Leicht gönnerhaft, mehr aus Mitleid und Spaß an seiner Unerfahrenheit als aus ehrlichem Interesse, nehmen sie ihn auf ihre Streifzüge durch den Ort mit. Doch zwangsläufig kommt es dabei auch zu intimeren Momenten, Situationen oder Gesprächen, die Sam – direkt oder indirekt – offenbaren, dass auch die anderen im Grunde ängstlich sind und unsicher. Und dass jeder von ihnen seine persönlichen Kämpfe ausfechten muss – gegen Vorurteile und Rassismus, gegen die überhöhten Erwartungen der Eltern oder auch nur gegen die eigenen Unzulänglichkeiten.
Nicht nur wegen des ersten Satzes im Roman ist es von Anfang an vorhersehbar, dass Sam sich Hals über Kopf in Kirstie verliebt. So wie die einzelnen Charaktere nach und nach entwickelt werden, wie aktuelle Themen wie Homophobie und Rassismus eingewoben werden und wie am Ende der beste und der schlimmste Tag in Sams Leben unmittelbar aufeinander folgen, wirkt manches etwas konstruiert. Eine typische Coming-Of-Age-Geschichte, ein klassisches Jugendbuch eigentlich, könnte man denken.
Und doch kann man das Buch nicht aus der Hand legen und ist am Ende seltsam berührt. Das hat zwei Gründe. Zum einen gelingt es Benedict Wells, niemals den Bogen zu überspannen. Gerade die Schlüsselszenen, die Momente der größten Intimität zwischen den Jugendlichen, bleiben fest in der Realität verankert und sind nie kitschig: Sie kommen meist unerwartet, währen nur kurz – und oft ist dabei viel Alkohol im Spiel. Die Freundschaft der drei Älteren changiert zwischen einer Zweckgemeinschaft von Außenseitern und einem Bund fürs Leben. Immer wieder kommt es zu Hänseleien und Sticheleien, Streit und Verletztheit, ausgeteilt wird dabei in alle Richtungen. Und auch die Gefühle des Ich-Erzählers Sam für die unberechenbare Kirstie sind nicht immer eindeutig. Als sie ihm zum lang ersehnten 16. Geburtstag drei Mutproben schenkt, die er bestehen muss, merkt man als Leser, wie labil diese erste Liebe ist. Fast schmerzhaft spürt man die Zerrissenheit und Verzweiflung des Jungen darüber, sich so stark zu diesem Mädchen hingezogen zu fühlen und dadurch so ausgeliefert, verletzlich und so abhängig von ihm und seinen Launen zu sein.
Zum anderen vollbringt Wells das Kunststück, den Leser zurückzuversetzen in die eigene Jugend, in dieses Zeitfenster voller neuer und widersprüchlicher Gefühle. Diese Lebensphase, in der alles so schwer scheint und im Nachhinein so leicht; Diese wenigen Jahre, in denen alle Erkenntnisse und Eindrücke von kompromissloser Unmittelbarkeit sind und uns noch so viel berührt, beeinflusst und bewegt.
Auch Claudio Armbruster vom ZDF heute Journal empfindet es so: „ ‚Hard Land‘ ist ein verträumter, ein sehnsüchtiger Blick in die Jugend“. Und Katja Kraft von der Frankfurter Rundschau resümiert: „Niemand kann den ersten verliebten Sommer wiederholen. Doch in diesem Büchlein scheinen die Sonnenstrahlen der Jugend eingefangen zu sein und noch einmal hell zu leuchten.“
„Hard Land“ mag am Ende also nur ein weiterer Roman über das Erwachsenwerden sein – aber defintiv ein lesenswerter.