Buchrezension Fr. Liebsch

Judith Liebsch über Juli Zehs neuesten Roman „Über Menschen“ (2021)

Der Geruch von sandigen Kiefernwäldern, Waldseen, schier endlose Raps-, Mais- oder Weizenfelder. Dazwischen Landstraßen, die ab und zu von ein paar Dörfern, die aus nicht viel mehr als den Häusern direkt an der Straße bestehen, gesäumt werden. Das ist Brandenburg. Die Heimat meiner Großmutter und Urgroßmutter und damit verbunden auch ein Stück meiner eigenen Kindheit. Der Liedermacher Reinald Grebe beschreibt Brandenburg in einem seiner Lieder jedoch ganz anders: „In Brandenburg, in Brandenburg ist wieder jemand gegen einen Baum gegurkt, was soll man auch machen, mit 17, 18 in Brandenburg“ und etwas weiter heißt es „Da stehen drei Nazis auf dem Hügel und finden keinem zum Verprügeln in Brandenburg.“ In diesem von rechten und rechtspopulistischen Gedankengut, Arbeitslosigkeit und Abgeschlagenheit betroffenen Landstrich spielt der neueste Roman meiner Lieblingsautorin Juli Zeh: „Über Menschen“. Der Titel beschreibt ziemlich treffend, um was es in dem Roman geht, nämlich um Menschen, menschliches Miteinander, ihre Stärken und Schwächen, ihre kleinen und großen Probleme. Wer bei dem Titel aber auch an Nietzsches „Übermenschen“ denkt, der täuscht ebenfalls nicht. Denn es geht auch um Moral und Wertung, um das Auf- und Abwerten von Verhaltensweisen und die Frage, wer am Ende der bessere Mensch ist.

Im Mittelpunkt der Handlung steht Dora, das klassische Klischee des Berliner Hipster: jung, pseudoalternativ und in der Werbebranche für Kund*innen tätig, die faire und ökologisch nachhaltige Produkte bewerben lassen wollen. An ihrer Seite ihr Freund Robert, freier Journalist, und ihre Hündin Jochen der Rochen. Doch mit Ausbruch der Corona-Pandemie entwickelt sich Robert immer stärker zum Sicherheits- und Gesundheitsfanatiker und verurteilt jeden, der nicht seinen strengen Regeln des Social Distancings, denn die Maßnahmen der Bundesregierung greifen ihm zu kurz, gerecht wird. Während Robert die Welt in die Guten, zu denen eindeutig er gehört, und die Schlechten, die Cornoa-Leugner, unterteilt, fühlt sich Dora von diesen Extremen eingeengt. Dora zweifelt und möchte sich weder in die eine noch in die andere Schublade stecken lassen. Wenn es heißt „Sie beharrt darauf, sich keine klare Meinung bilden zu müssen, wenn es keine einfache Lösung gibt, und die gibt es momentan noch weniger als sonst. Weder Politiker noch Virologen verfügen über Wahrheiten, die man einfach nur verfolgen müsste, damit alles gut wird. Meistens besteht das Leben aus Trial and Error, und der Mensch kann viel weniger begreifen und kontrollieren, als er glaubt. Auf dieses Dilemma kann weder Nichtstun noch Aktionismus die richtige Antwort sein. Nach Doras Ansicht geht es um Augenmaß beim Handeln und größtmögliche Ehrlichkeit in der Kommunikation. Voraussetzung von Ehrlichkeit ist das Bekenntnis von Nicht-genau-Wissen. Deshalb richtet sich ihr Streben nur gegen Denk-Imperative, nicht gegen die Regeln an sich. Dora kann Regeln befolgen, sie will sie nur nicht gut finden müssen. Sie muss nicht mit zehn Leuten Bier vor dem Späti trinken, um sich zu beweisen, dass sie frei oder wichtig ist. Wenn Social Distancing die Strategie ist, für die sich die Gesellschaft entschieden hat, dann ist sie bereit, den Weg mitzugehen. Auf vernünftige Weise […] Sie hält sich an Bestimmungen. Die Gedanken bleiben frei. Niemand kann sie zwingen, Biertrinker vor dem Späti für gemeingefährliche Volksverräter zu halten“ (S.28), erklärt die Autorin ganz nebenbei auch das Wesen der Demokratie und nimmt gleichzeitig den Extremen ihr Kanonenfutter. Die von uns gewählten Volksvertreter haben sich für einen Weg entschieden, den wir mitgehen sollten, wenn wir an die Werte unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung glauben. Es bedeutet jedoch nicht, dass wir auch alles vorbehaltlos gutheißen müssen. Um Extrempositionen jedoch entgegenwirken zu können, sind Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit und das miteinander Sprechen Grundvoraussetzungen.

Mit der aufrichtigen Kommunikation ist es in Doras Welt allerdings nicht mehr so einfach, sie distanziert sich zunehmend von Robert und entscheidet sich kurzerhand, Robert und Berlin den Rücken zu kehren. Dora zieht an den Dorfrand von Bracken, einem fiktiven Dorf im Herzen Brandenburgs. Und sogleich bricht das nächste Klischee über Dora hinein. Ihr Nachbar, Gote, ist der „Dorfnazi“. So stellt er sich ihr vor. Doch der mit seinen Nazifreunden das „Horst-Wessel-Lied“ singende, Homosexuelle verachtende und Linke verprügelnde Nachbar zeigt Dora auch noch eine zweite, eine andere Seite, denn Gote ist uneigennützig, hilfsbereit und, wenn auch etwas überfordert, ein liebevoller Vater für seine zehnjährige Tochter, die die Sommerferien bei ihm verbringt. Diese zwei ambivalenten Seiten, die nicht nur Gote, sondern irgendwie alle Dorfbewohner verkörpern, passen nicht in Doras Weltbild. Sie ist überfordert, denn sie verachtet den Nazi in Gote, sie ist erstaunt, wie das homosexuelle Paar in ihrer Straße junge ausländische Studenten in ihrer Gärtnerei beschäftigen kann und trotzdem die AfD wählt. Und sie hasst es, wenn sie, anstatt gegen die rassistischen Witze eines weiteren Nachbarn zu protestieren, in „Rassismus-Starre“ verfällt. „Die Rassismus-Starre fühlt sich an wie ein Schock. Als wären die Nervenbahnen blockiert. Manchmal formuliert Dora noch drei Tage später in Gedanken kluge Erwiderungen, die sie im richtigen Moment hätte sagen wollen“, aber offensichtlich aus einer Mischung von Feigheit, Fremdschämen und Konfliktscheue nicht herausbekommen hat. „Sie weiß nicht einmal, ob es stimmt, dass die meisten Rechten nicht gesprächsbereit sind. Weil sie selbst nicht gesprächsbereit ist. Ihre Taktik besteht eigentlich darin, Menschen, die rechte Sprüche klopfen, um jeden Preis zu meiden“ (S.86f.).

Dora muss zunehmend erkennen, dass auch sie, die sonst das Schubladendenken so verabscheut und für sich beansprucht, in keine Schublade gesteckt zu werden, in Stereotypen denkt. Und umso mehr es ihr gelingt, sich von diesen Bildern zu verabschieden, desto mehr entdeckt sie die Menschen in ihrer Umgebung. Das hat zur Folge, dass man während des Lesens auch zwangsläufig immer mehr Sympathie für den „Nazi“ empfindet, der zunehmend zu dem Menschen „Gote“ wird. Zuweilen wird Juli Zeh genau dafür kritisiert. Positive Gefühle für einen Nazi? Verständnis für das rechtspopulistische Wahlverhalten vieler Ostdeutscher?

Ich glaube nicht, dass das die Botschaft von Juli Zeh ist. Juli Zeh ist durch und durch Demokratin. Als Voraussetzung für eine intakte Demokratie arbeitet die Autorin den ehrlichen Austausch und aufrichtige Gespräche, die Menschen verbinden, anstatt sie zu trennen, heraus. Gespräche, die auf Augenhöhe und nicht auf der Ebene ideologischer Konstrukte geführt werden. Gespräche, die nicht auf das Aufwerten der eigenen Person und die Abwertung des anderen abzielen. Gespräche, die nicht in den Extremen zu finden sind, die das Suchen nach Lösungen von Vornherein untergraben. Sondern Gespräche, die zwischen Menschen stattfinden. Zwischen Menschen, die Schwächen und Stärken haben. Menschen, die sich irren können. Menschen, die sich öffnen können. Menschen, die auch zuhören. Menschen, die füreinander da sein wollen.

Nur wenn wir demokratische Werte vertreten und diese auch bei jenen Anwendung finden, deren Meinung unserer zutiefst widerspricht, nur wenn wir auch jenen als Mensch begegnen, die uns und unsere Werte verachten, und wir dennoch den Menschen in ihnen suchen, dann können wir auch etwas bewirken. Sie nicht zu Außenstehenden zu machen, sondern sie wahrzunehmen, nimmt ihnen ihre einzige Waffe, denn ist es nicht der Vorwurf der Ignoranz und des Unsichtbar- Werdens, den sie dem Staat immer wieder vorwerfen, mit dem sie sich nicht mehr identifizieren können?

Es geht nicht darum, wozu man fähig ist. Es geht nicht darum, wer was verdient hat. Nicht einmal darum, für oder gegen Nazis zu sein. Das Zauberwort heißt ‚trotzdem‘- Trotzdem weitermachen, trotzdem da sein. Trotz allem liegt da drüben ein Mensch“ (S.340).

Juli Zeh: Über Menschen. Luchterhand. 2021